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Elmar Traks

Elmar Traks

Tauschwitz, Marion – Der Gesang der Schneckenhäuser (2011)

Dem Zahnarzt Serge de Montrudier liegt nicht viel an der sexuellen Vereinigung– er findet seine Befriedigung vielmehr im Begehren, im Betrachten und in der geistigen Verschmelzung mit einer Frau. Und so sucht er einmal im Monat Luzifers Luxus-Etablissement auf, um zusammen mit einer Tischdame betörend duftende exklusive Delikatessen und kultivierte Gespräche zu genießen. Eines Tages begegnet er dort der etwa 20-jährigen attraktiven Laura.

Er ist so von ihr fasziniert, dass er sie zu seiner ständigen Tischdame wählt. Diese verliebt sich unsterblich in den charismatischen Serge und sehnt sich bald nach körperlicher Vereinigung, die er ihr aber auch nach 12 Monaten noch verweigert. Im Gegenteil: Eines Tages bleiben seine Besuche plötzlich aus.

 

Als er nach einem Jahr überraschend wieder vor der Tür steht, will er Laura sofort mit sich nehmen. Sie hat kaum Zeit zum  Packen und darf ohnehin auf seine Anweisung nur ein paar wenige Sachen behalten. Dazu gehören 5 Schneckenhäuser, in die ihre früh verstorbene Mutter Lieder eingeschlossen und die Öffnungen mit Wachs versiegelt hat. In großer Not sollen die Klänge der Tochter Trost spenden, was allerdings noch nie nötig war, da Laura bislang alle schlimmen Situationen aus eigener Kraft bewältigen konnte.

 

Dies ändert sich jedoch bald, denn der geliebte Mann verweigert ihr nicht nur weiterhin jegliche Sexualität, sondern nimmt stattdessen immer wieder eigenhändig gründliche Ganzkörper-Waschungen an ihr vor. Sie soll ihre „schmutzige“ Vergangenheit loslassen; dazu hört auch, dass sie nicht über frühere Zeiten reden darf und sogar einen neuen Namen - „Mariefleure“ - von ihm bekommt. In dieser für sie unerträglichen Gesamtsituation öffnet sie zum ersten Mal eines der Schneckenhäuser, um im Gesang der Mutter Trost zu finden, auf den die Verzweifelte jetzt immer häufiger angewiesen ist. Ihr erster gemeinsamer Geschlechtsakt findet schließlich während Mariefleures erster „reinigender“ Regelblutung statt.

 

Im Rahmen einer Weltreise heiraten beide nach einem alten Südsee-Zeremoniell, in dem die Frau schwören muss, den Mann als unumstößliche häusliche Autorität anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen. Was Marie-fleure als reine Formalie betrachtet, ist für Serge bitterer Ernst, wie sich in ihrem Zusammenleben immer wieder herausstellt.

 

Nachdem er z.B. hocherfreut von ihrer Schwangerschaft erfahren hat, organisiert er alles  mit Geburt und Ausstattung Zusammenhängende im Alleingang und arrangiert entgegen dem Wunsch der werdenden Mutter sogar eine Hausgeburt. Auch den Namen seines Kindes bestimmt er allein – Isabelle soll die Kleine heißen.

 

Vom ersten Moment an kümmert er sich hingebungsvoll um seine Tochter, übertreibt es jedoch nach Mariefleures Ansicht maßlos mit der Hygiene. Vor allem dem abendlichen Bad widmet er viel Zeit und Gründlichkeit, dem anschließenden Eincremen des kleines Körpers viel Hingabe.

Der Mutter erlaubt er, mit dem Kind zu beten und ihm etwas vorzusingen. Als Isabelle alt genug ist, darf sie sich vorher immer eines der 5 Schnecken-häuser aussuchen; gemeinsam versiegeln sie dieses anschließend mit einem Kuss und schließen so die mütterlichen Texte ein.

 

Mariefleures Sehnsucht nach körperlicher Liebe wehrt ihr Mann rigoros ab, und während sie an seiner Nichtachtung langsam zu Grunde geht, genießt Serge auf Grund großherziger sozialer Aktionen die Hochachtung der Gesellschaft. Als er der verzweifelt um Zuwendung Kämpfenden in aller Deutlichkeit zu verstehen gibt, dass er sie nur als „Brutofen“ gebraucht habe, wird ihr klar, dass sie ihn verlassen muss – und eines Tages ist sie spurlos verschwunden.

 

Serge kümmert sich hingebungsvoll um die kleine Isabelle, übernimmt in den ersten Jahren sogar  die schulische Ausbildung des intelligenten Mädchens, das seinen Vater abgöttisch liebt.

Dessen Zuwendung geht jedoch sukzessive in einen immer massiver werdenden sexuellen Missbrauch über. Trotz aufkommender schwacher Proteste Isabelles nimmt er immer mehr von  ihrem Körper Besitz, miss-handelt und missbraucht ihn. Sie darf über dieses „Familien-Geheimnis“  nicht mit anderen sprechen und findet nur Trost, wenn sie abends eines der Schneckenhäuser öffnet und die Stimme der Mutter hört.

Je älter sie wird, um so unerträglicher werden ihr die nach wie vor vom Vater eigenhändig vorgenommenen und keine Körperöffnung auslassenden gründlichen Waschungen. Eines Abends hat sie jedoch das Gefühl, sich durch die Öffnungen der Schneckenhäuser zwängen zu können. Dadurch entkommt ihr Ich scheinbar ihrem Körper, den sie „unbeseelt“ bei ihrem Vater zurücklässt.

 

Gelegentlich aufkommendes Misstrauen und Mutmaßungen über die allzu große Vertraulichkeit des Vaters mit der Jugendlichen oder über deren Verstörtheit nach Besuchen bei ihm - sie geht mittlerweile auf ein Privat-internat - kann Serge mit seinem Charme, seiner kultivierten Art und seinem großen sozialen Engagement immer schnell zerstreuen. Im Gegenteil: Man beneidet Isabelle um ihren fürsorglichen Vater!

Erst mit etwa 13 Jahren ändert sich peu à peu ihre Einstellung zu ihrem „Schöpfer“, und sie fängt an, sich von ihm innerlich und räumlich zu distanzieren – ein Prozess, dem Serge mit allen Mitteln gegenzusteuern versucht.

 

Als sie nach dem Abitur weit von ihrem Elternhaus entfernt ein Medizin-studium beginnt, verfällt sie einem extremen Putz- und Reinigungszwang. Es gelingt ihr aber, sich immer mehr von ihrem Vater zu lösen. Sie lernt Sebastian kennen, der sie liebt und ihr Verhalten richtig deutet, und mit seiner Hilfe gelingt ihr schließlich der endgültige Befreiungsschlag.

 

Der Schluss hält ein paar Überraschungen und schaurige Erklärungen bereit, lässt den Leser aber vor allem nicht in Aussichtslosigkeit zurück, sondern macht Mut.

 

Resümee: Ein tolles Buch, in dem Marion Tauschwitz die Fakten über sexuellen Kindesmissbrauch sehr sensibel zu einem erschütternden und zugleich spannenden Roman verarbeitet hat: Es wird nichts beschönigt, ohne jedoch jemals voyeuristisch zu werden.

Auch sprachlich handelt es sich um ein Meisterwerk im besten Sinne: Die zum Teil bedeutungsvollen Namen sind mit Bedacht ausgewählt. Viele Symbole durchziehen wie ein roter Faden das gesamte Werk oder sind pointiert an geeigneter Stelle eingesetzt.

Die Autorin versteht es, mit Sprache zu malen, sodass man sich in so manche Szene regelrecht hineinversetzt fühlte.

Aber keine Sorge: Nichts ist übertrieben oder gar schwer verständlich, sondern alle Sprachmittel sind effektiv eingesetzt, um Inhalt, Handlungen und Personenbeschreibungen zu unterstreichen.

Ein Buch, das man, wenn man den Inhalt bereits kennt, ein zweites Mal lesen sollte, um wirklich alle Feinheiten zu erfassen.

 

Es ist aufgrund der thematischen und sprachlichen Dichte schwierig, diesem Buch mit einer kurzen Rezension gerecht zu werden. Eine ausführlichere Besprechung erhält man durch Anklicken der nachstehenden Texte.



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Kommentare: 1
  • #1

    A.T. (Mittwoch, 24 Oktober 2012 09:48)

    Die Autorin hat einen Kommentar ins Gästebuch geschrieben (#16)