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Elmar Traks

Elmar Traks

Möller, Philipp – Isch geh Schulhof (2012)

Der Diplom-Pädagoge Philipp Möller hat nach dem Studium

der Erwachsenenbildung als Quereinsteiger gut 2 Jahre lang

an einer Berliner Kiez-Grundschule unterrichtet. Von seinen Erfahrungen dort berichtet er in 32 kurzweiligen Kapiteln. Er schildert in ihnen nicht nur seine Erlebnisse mit Schülern, Kollegen, Schulleitung und Eltern, sondern liefert auch viele Hintergrund-Informationen und geht auf die schulischen Rahmenbedingungen ein; am Rande erfährt der Leser auch etwas über seine private Situation.

Die Ereignisse in seinem Schulalltag „erzählt“ er sehr authentisch, nämlich genau in der Sprache (siehe Titel) und „Argumentationsweise“ der Be-troffenen. Deutlich werden dabei in Bezug auf die Mehrheit der Schüler nicht nur elementare Sprachdefizite und die häufig fehlende Fähigkeit, auch nur halbwegs angemessen zu kommunizieren. Nein, es offenbart sich auch ein erschreckendes Maß an Lernunwillig- und -fähigkeit; die meisten können z.B. weder altersgemäß lesen noch rechnen, von kindgerechtem Allgemein-wissen ganz zu schweigen. Gepaart ist dies sehr oft mit einem enormen Gewalt- aber minimalen Toleranzpotenzial. Viele Kinder haben Disziplin nie gelernt, weisen schwere emotional-soziale Störungen auf, leiden an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), vergessen aber die Medikamenteneinnahme, sind verwahrlost und kommen aus völlig kaputten Elternhäusern. - Ein geregelter Unterricht ist unter diesen Bedingungen und bei viel zu großen Klassen kaum möglich. Der Autor schildert seine mal mehr, mal weniger erfolgreichen Versuche, seinen Schülern wenigstens ein Mindestmaß an Disziplin, Umgangsformen und Wissen zu vermitteln. Nicht selten muss er hierbei religiös-kulturelle Schranken zumindest aufweichen.

 

So wundert es kaum, dass die Lehrer selten mit der Unterstützung durch Eltern rechnen können:

Diese sind in der Regel desinteressiert am Schulgeschehen; die meisten gehören einer niederen sozialen Schicht an, dennoch sind ihnen Status-symbole vielfach wichtiger als das Wohlergehen, vor allem die Bildung ihrer Kinder. Vielen von ihnen mangelt es selbst an einer gewissen Grundbildung und elementaren Umgangsformen; Alkoholismus ist ein häufiges Problem.

 

So wundert es kaum, dass etliche Lehrer – wenn sie denn überhaupt die Grundvoraussetzungen für ihre Tätigkeit (Stichwort: Berufung!) mitbringen – angesichts des krassen Missverhältnisses von Dauerstress und Frustration einerseits, mangelnder Unterstützung und Anerkennung andererseits irgendwann resignieren. Das Burn-Out-Syndrom ist in dieser Berufsgruppe weit verbreitet – viele sehen zu, dass sie die Zeit bis zur Pensionierung möglichst aufwandsminimal überstehen. Krankschreibungen, Versetzungen an andere Schulen, vorzeitige Pensionierungen haben außerdem zur Folge, dass in den Klassen die Lehrer ständig wechseln, sodass eine konstante, verlässliche Bezugsperson für die Kinder auch hier fehlt – nicht nur zu Hause.

 

Was fürs Kollegium zutrifft, gilt auch für die Schulleitung: Sie ist vielfach total überfordert, delegiert Aufgaben an die ohnehin schon überlasteten Lehrer, verschließt die Augen vor offensichtlichen Problemen, blockt Reformen ab - nicht zuletzt deshalb, weil es der Politik nicht gelingt, die

dafür erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

 

Folge: Es herrscht eine apokalyptische Bildungskatastrophe – ohne Aussicht darauf, dass die Schüler jemals das Rüstzeug für eine halbwegs positive Zukunft bekommen können.

 

Resümee: Philipp Möller „erzählt“ einerseits unterhaltsam Erlebnisse aus seinem Schulalltag, wobei er Schüler, Eltern und auch Lehrer in ihrer Sprache und Ausdrucksweise zu Wort kommen lässt; dabei weiß man manchmal nicht, ob man lachen oder weinen soll. Andererseits analysiert er sachlich und kompetent die jeweiligen Situationen, benennt Missstände und schlägt praxisbezogene Lösungen vor.

Dem Autor ist mit diesem Rezept hervorragend der Spagat zwischen (Galgen-) Humor und Ernsthaftigkeit gelungen – in beiden Fällen wird sehr deutlich, wie sehr ihm das Wohlergehen der Kinder am Herzen liegt und wie dringend notwendig es ist, endlich die Voraussetzungen für einen gangbaren Weg aus dem herrschenden Bildungs-Chaos zu schaffen.

 

Obwohl die Szenen in einer Berliner Kiez-Schule angesiedelt sind, hatten die Episoden für mich einen sehr hohen Wiedererkennungseffekt, sodass ich aus meiner Erfahrung als Lehrerin nur bestätigen kann: „Ja, so ist Schule gegenwärtig!“ - je nach Gegend und Schulart mal mehr, mal weniger „ieberkrass – sch'wöre!“

Ich möchte mit einem Zitat von Seite 343 (e-Reader) schließen, in der Hoffnung, dass insbesondere möglichst viele Eltern und Schüler dies lesen, die IHRE Versäumnisse gerne mit einer völlig überzogenen Anspruchs-haltung gegenüber Lehrern kompensieren und alles, was diese tun und sagen unter einem möglichst negativen Blickwinkel analysieren:

„Ich verbeuge mich von den Lehrern (…). Vor diesen Menschen, deren berufliche Anforderungen (…) so immens gestiegen sind, dass jeglicher Vorwurf an sie wie eine schlechter Scherz erscheint.“

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Philipp Möller (Dienstag, 13 November 2012 14:19)

    Wow - das nenn' ich mal eine Rezension. Danke!

    Um ganz ehrlich zu sein, habe ich mir während des Verfassens meines Buches oft überlegt, wie die Rückmeldungen aussehen könnten und mir dabei stets differenzierte Reaktionen gewünscht. Aus ihrem Text geht - und darüber freue ich mich am meisten! - deutlich hervor, dass Sie meine Sorge um die Folgen der Bildungsmisere teilen.

    Nun kommt es wohl darauf an, den Impuls des Buches mitzunehmen um Veränderungen anzustoßen. Ich werde bei Presseterminen nun immer häufiger gefragt: Herr Möller, wie kann Schule gelingen?

    Ohne diese Frage erschöpfend beantworten zu können beschreibe ich dabei stets das Etablieren einer neuen Lernkultur:

    Lehrer müssen Schüler dort abholen wo sie stehen, sie müssen sich auf die wachsende Heterogenität einstellen und ein Lernklima schaffen, in dem die Lernenden sich wohlfühlen.

    All das werden Lehrerinnen und Lehrer aber NUR schaffen, wenn sie dabei angemessen politisch unterstützt werden (v.a. im Hinblick auf genügend Personal!) und wenn sie entsprechend aus- und forgebildet werden. Hier ist die Bildungspolitik gefragt: stecken Sie mehr Mittel in den Bildungssektor, schenken Sie den dort bestehenden Problemen endlich mehr Aufmerksamkeit - denn wenn Schulen nicht schnellstens verbessert werden, droht die Bildungskatastrophe zu einer Sozialkatastrophe zu werden. So schreibe ich auf S. 354 f.:

    "Doch wenn alles so ist, wie es ist – warum dann noch ein Buch zur Schulmisere? In erster Linie bin ich nach meinen Erfahrungen und den Erzählungen von Lehrern anderer Schulen tief bestürzt über das dramatische Ausmaß unserer Bildungskatastrophe. Mit der schonungslosen Beschreibung schulischer Realität möchte ich einen lautstarken Warnruf abgeben: Wenn wir der Bildung nicht schnellstens eine deutlich höhere Priorität einräumen, werden wir vermutlich bald alle unter den Folgen der steigenden Bildungsarmut leiden. Und dabei ist es nicht nur mangelnde Bildung, sondern auch emotionale Armut, die mancherorts schon jetzt für ein kühles soziales Klima sorgt. Wenn es an den Schulen so weitergeht wie bisher, droht uns eine geistige und emotionale Eiszeit. "

    Packen wir es also gemeinsam an!

  • #2

    A.T. (Donnerstag, 20 Dezember 2012 14:22)

    Ich habe die Rezension mit gleichem Wortlaut bei amazon.de reingestellt. Sie wurde heute wie folgt kommentiert:

    saddler meint:
    Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie eine Lehrerin. Gerade aus dieser Position heraus bewundere ich Ihre sachliche Rezension. Sie entspricht im übrigen meinen Empfindungen beim Lesen des Buches, wie auch meinen Erfahrungen in meinem beruflichen Alltag. Ich bin kein Lehrer, habe aber viel mit Lehrern zu tun und kenne deren Nöte.