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Elmar Traks

Elmar Traks

Lozano, Antonio – Harraga (2011)

Der ein wenig kryptisch anmutende Buch-Titel ist der marokkanische Ausdruck für „die, die verbrennen“. Gemeint sind damit die illegalen Emigranten von Nordafrika nach Spanien, die ihre Ausweispapiere vernichten, um so eine Abschiebung zu erschweren.

Hauptperson des Romans ist Khalid, der mit seinen 7 Geschwistern in der Medina, der Altstadt, von Tanger aufgewachsen ist. Die Familie hat kaum das Nötigste zum Leben, die Wohnverhältnisse sind beengt: „drei schäbige Räume, das Bad war auf dem Hof und die Küche so schmal wie unsere Leben.“ (Seite 15)

Khalid hat Glück, dass er als Kellner ein klein wenig zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann. Doch er träumt von einem besseren Leben in Europa – besonders, wenn er nachts den Lichterglanz gegenüber, auf der nur 14 Kilometer entfernten spanischen Seite der Straße von Gibraltar, sieht.

Sein Vorbild ist Freund Hamid, der ein Stipendium bekommen hat, um an der Universität Granada Medizin zu studieren. Bei Besuchen in der alten Heimat schwärmt er von seinem Leben in Wohlstand und schildert viel-versprechende Zukunftsperspektiven. Die Zuhörer bewundern und beneiden ihn glühend.

Doch eines Tages wird Khalid von dem Freund ins Vertrauen gezogen:

Er gesteht, wie er wirklich lebt und womit er seinen stattlichen Unterhalt verdient. Dann macht er ihm den Vorschlag, ebenfalls nach Granada zu kommen und zusammenzuarbeiten.

Das vermeintliche Paradies lockt und Khalid nimmt das Angebot an.


Fortan arbeitet er zunächst als Drogenkurier zwischen Spanien und Tanger. Später sorgt er dafür, dass Flüchtlinge in sogenannten Pateras, kleinen kiellosen Flüchtlingsbooten, über die Meerenge von Marokko an die spanische Küste gebracht werden können. Doch etliche der kleinen, völlig überladenen Boote kentern, die Passagiere ertrinken. Ein Teil derer, die ihr Ziel völlig entkräftet erreichen, wird anschließend weiter nach Almería oder Huelva gebracht, wo sie als billige Erntehelfer eingesetzt werden.


Die Unternehmungen sind akribisch durchorganisiert; sie fliegen nicht auf, da sie von korrumpierten Beamten an den entsprechenden Stellen gedeckt werden. Bis in höchste Ebenen existieren mafiös organisierte Seilschaften, deren Angehörige alle zur „Familie“ gehören.


Khalid wird immer weiter in einen kriminellen Strudel hineingezogen, der ihn unaufhaltsam nach unten mitreißt und aus dem es kein Entrinnen gibt.

 

Resümee: Obwohl als Kriminalroman tituliert, handelt es sich hier jedoch

um keinen typischen Vertreter dieses Genres, denn es geht nicht um ein Verbrechen und dessen Aufklärung. Vielmehr erfahren wir durch den Monolog des in einer Zelle liegenden Khalid, wie er zum Kriminellen wurde und wie seine „Karriere“ bis hin zum bitteren Ende verlief. Es ist also eher eine (fiktive) Biographie, bei der es kein Delikt durch Ermittler von außen aufzuklären gibt.


Die Erzählung ist auf 2 Ebenen angelegt:

Die eine behandelt Khalids jüngste Entwicklung als Krimineller von den Anfängen seines „neuen Lebens“ bis in die Gegenwart.

Auf der anderen erfahren wir in Rückblenden Details aus seinem früheren Dasein im Kreise seiner Familie und Freunde. Hier hält er auch oft Zwie-sprache mit Personen, die eine Bedeutung für ihn hatten.

Dies ist ein recht geschickter Kunstgriff, da durch die Gegenüberstellung

der Gegensatz zwischen Tradition und gesellschaftlicher Veränderung sehr deutlich wird: Hier die ärmliche Wohngegend und die kargen Lebens-verhältnisse in der Medina von Tanger, die kaum Perspektiven auf ein besseres materielles Auskommen bieten. Dort ein zum Teil durch illegale Machenschaften erworbener Reichtum, mit dem man viele Bedürfnisse befriedigen kann.


Verbunden damit ist stets die Frage, ob der durch den Wechsel in eine andere Gesellschaftsform erzielte materielle Wohlstand letztlich so glücklich macht, dass man dafür seine Familie und kulturelle Identität aufgeben, eine Entwurzelung in Kauf nehmen sollte.


Fatalerweise jedoch bleibt für die Mehrzahl der Geflüchteten der Traum

von einem besseren Leben in Europa nur ein schöner Traum, für den die Familie daheim meist die letzten Ersparnisse geopfert hat. Zurückzukehren würde für die meisten ein Eingeständnis des Scheiterns, einen Gesichts-verlust bedeuten. Daher wird oft eine heile Scheinwelt in die alte Heimat kommuniziert, während man in Wirklichkeit in der Fremde ein Dasein am Existenzlimit fristet.


Die Rückblenden sind meist durch den mit den Worten „Ich schließe die Augen“ eingeleiteten Beginn eines neuen Kapitels deutlich erkennbar. Zum Teil jedoch sind sie in laufende Textabschnitte eingeschoben, wo man sie erst im zweiten Anlauf als solche erkennt, sodass sie den Lesefluss hemmen.


Fazit:

Obwohl der Roman fiktiv ist, hat man als Leser das Gefühl, eine Dokumentation vor sich zu haben. Dies umso mehr, wenn man wie wir in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Geschehen lebt und die ganze - auch

im Buch thematisierte - Dramatik um

Drogen- und Menschenhandel zwischen Spanien und Nordafrika,

illegale Einwanderer, die versuchen, in Pateras über die Meerenge von

   Gibraltar nach Europa zu gelangen,

Korruption bis in die höchsten Etagen von Polizei und Politik, bis hin zu

   mafiösen Strukturen

hautnah mitbekommt.

 

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