Vor anderthalb Jahren ist David, der Ehemann von Sanne Mewes, im Alter von nur 54 Jahren an Krebs gestorben. Das Leben ohne ihn fällt ihr schwer, sie trauert und spürt überall seine Energie und Nähe. Obwohl sie sich immer wieder sagt, dass ihr eigenes Leben mit 48 Jahren noch nicht vorbei sein kann, dass statistisch gesehen noch eine lange Wegstrecke ohne ihren Mann vor ihr liegt, hat sie nicht die Kraft, etwas zu verändern: Weder kann sie sich entschließen, wieder ihre Tätigkeit als Übersetzerin aufzunehmen noch mag sie ausgehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Halt und Trost findet sie im Kontakt zu ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern und im Schreiben eines Tagebuchs, in dem sie zu David spricht.
Freundin Maria gelingt es schließlich, Sanne zu einem Kurz-Trip nach Paris zu überreden und letztlich genießt diese die aufoktroyierte Shopping-Tour ebenso wie die französische Lebensart und Sprache, die sie nahezu akzentfrei spricht.
Mehr noch, nach Ende des Aufenthalts fliegt Maria alleine nach Hamburg zurück, während Sanne sich eine Wagen mietet und der Küste entlang in
die Bretagne fährt.
In dem kleinen Ort Roscoff macht sie Station und trifft dort Mathieu Fleury, einen 44-jährigen Schriftsteller, der sich zur Zeit in einer Schreibkrise befindet. Für ihn hatte Sanne vor Jahren einmal als Übersetzerin gearbeitet, und schon damals herrschte eine gegenseitige Anziehungskraft; jedoch intensivierten sie den Kontakt nicht, da Sanne verheiratet war.
Jetzt jedoch ist sie frei, und so verbringen beide eine leidenschaftliche
Zeit miteinander, in der Sanne allmählich aufhört, sich gedanklich so
stark an ihren verstorbenen Mann zu klammern. Langsam beginnt sie,
sich „abzunabeln“ und eigene Schritte zu wagen.
Dennoch ist dies sowohl für Mathieu, der auch eine schmerzhafte Bürde
mit sich trägt, als auch für Sanne eine schwierige Phase, denn so sehr die 48-Jährige sich zu dem Mann hingezogen fühlt, so sehr sie die körperliche Nähe genießt, so schwer fällt es ihr, zu der Beziehung zu stehen:
Immer wieder plagt sie das schlechte Gewissen ihrem verstorbenen Mann gegenüber. Ist es richtig, sich wieder neu zu verlieben oder betrügt sie ihn und verrät ihre Ehe damit? Werden ihre Kinder einen neuen Partner an
ihrer Seite akzeptieren? Aber hat sie nicht andererseits ein Recht auf einen Neustart und Glück?
Der Weg aus der Trauer heraus in eine helle Zukunft ist begleitet von einem Gefühlschaos:
Trauer und Verzweiflung, Loslassen wollen, aber sich nicht trauen auf der einen Seite, das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, wieder glücklich zu sein, auf der anderen.
Sanne erlebt ein Wechselbad der Gefühle, von dem natürlich auch Mathieu nicht verschont bleibt. Wird ihre neue Liebe dies verkraften?
Ganz am Schluss erkennt Sanne, dass sie den verstorbenen David in
ihrem Gefangensein in der Trauer glorifiziert hat. Denn letztlich wäre
es nicht einmal sicher gewesen, ob sie, nachdem die Kinder aus dem
Haus waren, überhaupt die Zweisamkeit bewältigt hätten und als Paar zusammengeblieben wären.
Resümee: Dies ist ein sehr berührendes Buch, das
• den Verlust des Lebenspartners,
• die unendliche Trauer, während der man ihn immer noch um sich
spürt,
• das Gefühl, ohne ihn nicht leben zu können,
• die Akzeptanz des Verlustes, einhergehend mit der Überwindung
von Leid und Schmerz,
• die Schritte in ein Leben ohne ihn, verbunden mit wechselnden
Gefühlslagen,
• das Wiedererlangen von Lebensfreude und die Entscheidung für
ein neues Leben
thematisiert.
Dabei sind Sannes – und später auch Mathieus - Stimmungen in jeder Phase so anschaulich geschildert, dass man sie sehr gut nachempfinden kann.
Allerdings geht mir nach der intensiven und so ausschließlichen Trauer-phase um den Verlust des Ehemannes die Hinwendung zu Mathieu, das Verlieben und Eingehen einer leidenschaftlichen Beziehung viel zu schnell. Eine schrittweise Annäherung wäre hier meines Erachtens besser und - soweit ich es beurteilen kann – auch realistischer gewesen.
„Blau ist die Farbe der Liebe“ - warum nicht Rot,
wie man ja gemeinhin sagt?
Die Erklärung liefert die Autorin auf Seite 10:
„Mit dir [gemeint ist der verstorbene David] war die Liebe blau, so wie die Kornblumen, so wie das Meer an dem Tag, als ich dich das erste Mal sah. So wie meine strahlenden Augen, wenn ich dich angesehen habe, (…).“
Blau ist u.a. auch das Sofa, das neben das Bett des Todkranken gestellt wurde, um ihm nahe zu sein, und in einem blauen Kleid hatte Sanne auch vor langer Zeit Mathieu das erste Mal gesehen.
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Carlotta Franck/ Verena Rabe (Mittwoch, 12 November 2014 18:02)
Die Kritik freut mich sehr! Herzlichen Dank, liebe Annette.
Andrea Allewelt-Schroeder (Sonntag, 16 November 2014 12:46)
Eine sehr treffende Rezension, Annette!