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Elmar Traks

Elmar Traks

Herrndorf, Wolfgang – Arbeit und Struktur (2013)

Nachdem im Februar 2010 bei dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (geboren 1965) die Diagnose „Glioblastom“ *) gestellt wurde, begann

er wenige Wochen später, am 8. März, für seine Freunde ein digitales Tagebuch zu schreiben. Einige drängten ihn, es öffentlich zu machen,

und so wurde im September desselben Jahres ein entsprechender Blog eingerichtet. Ihn führte Herrndorf bis kurz vor seinem Frei-Tod **) am 26.8.2013 kontinuierlich weiter – selbst dann noch, als ihm das Schreiben mit fortschreitender Krankheit immer schwerer fiel und schließlich nur noch mit Unterstützung anderer möglich war. Auf Wunsch des Autors wurde dieses Online-Tagebuch nach seinem Tod von zwei Freunden lektoriert

und als das vorliegende Buch veröffentlicht.

Der Leser erfährt, dass der Autor unmittelbar nach der Diagnose beschloss, seine verbleibende Lebenszeit – die statistische Prognose beträgt bei unter 50-Jährigen 17,1 Monate – mit Arbeit zu füllen. Ein Unbekannter, ebenfalls an einem Glioblastom Erkrankter, bestätigte ihn in einem Telefonat: Entgegen dem Rat seiner Ärzte, sich noch ein schönes Jahr zu machen, hatte er seinerzeit sofort angefangen, seine Tätigkeit als Richter wieder aufzunehmen – und übertraf die statistische Überlebensrate weit.


Seine Entscheidung gab Herrndorf recht, denn nach eigener Aussage

ging es ihm am besten, wenn er schrieb. Und das machte er – sofern

es Befinden, stationäre und ambulante Krankenhausaufenthalte zuließen – fast täglich bis kurz vor seinem Tod, zuletzt mit Hilfe seiner Freunde. Noch 2010 beendete er den Roman „Tschick“, 2011 folgte „Sand“. Beide Werke hatte er schon lange vorher begonnen, doch nun dachte er nicht mehr so viel über Formulierungen und Satzkonstruktionen nach, sondern traf schneller Entscheidungen.


Im Blog schilderte und kommentierte der Autor die im Verlauf der Erkrankung auftretenden


• Symptome (u.a. Epilepsie, Manie, Orientierungslosigkeit, Schwindel,

   Lähmungserscheinungen, Seh- und Wortfindungsstörungen),

• Behandlungen (u.a. 3 Hirn-Op's mit jeweils anschließender Strahlen- und

   Chemotherapie, Medikation, immer wieder Notfall-Ambulanz),

• Auswirkungen auf sein Privat- und Sozialleben sowie das schriftstellerische

   Schaffen.


Eine wichtige Rolle kam in diesem Gesamtkontext seinen Freunden und Weggefährten zu. In Rückblenden erfährt der Leser außerdem ein paar Details aus Herrndorfs Vergangenheit.

 

Resümee: Dieses Buch stellt kein literarisches Werk im herkömmlichen Sinne dar – und als solches war es zumindest ursprünglich wohl auch nicht gedacht (siehe oben). Vielmehr geht es um private, zum Teil stichwortartige Tagebuch-Aufzeichnungen eines Mannes „in den besten Jahren“ und mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, bei dem eine zwangsläufig zum Tode führende Krankheit diagnostiziert wurde.


Da meiner Überzeugung nach Krankheit, Sterben und Tod sehr persönlich sind und jeder Betroffene seinen eigenen Weg des Umgangs damit finden muss, möchte ich mich bei diesem Werk ganz bewusst einer Bewertung enthalten. Ein Richtig oder Falsch kann es bei dieser Thematik und einem Buch in der vorliegenden Form nicht geben, zumal man sich als zum Glück nicht Betroffener trotz aller Informationen nur eine sehr vage Vorstellung davon machen kann, was das Leben mit dieser Diagnose für jemanden bedeuten mag.


Warum habe ich dennoch dieses Buch gelesen,

zumal ich den Autor vorher nur namentlich kannte?

Die Antwort ist eng mit der Frage verbunden, warum man überhaupt die Tagebuch-Aufzeichnungen einer anderen Person liest. Man möchte wissen, wie es jemandem (in einer bestimmten Situation) ergangen ist, was er erfahren, getan, gefühlt und gedacht hat.

Und auch wenn die Eintragungen sehr individuell auf diese eine Person in ihrem So-Sein, in ihrem sozialen Gefüge, auf ihren konkreten Krankheits-verlauf bezogen sind, man sie also nicht verallgemeinern kann, so setzt man sich als an Menschen und an der Thematik interessierter Außenstehender doch mit dem Problemkomplex auseinander.


Hat mir das Buch also etwas gebracht?

Ja! Zunächst einmal habe ich auf der rein sachlichen Ebene viel über Glioblastome erfahren, d.h. über Symptome, Diagnose, Behandlungs-möglichkeiten und Verlauf. Hier sei erwähnt, dass Herrndorf keine wissenschaftlich-theoretische Abhandlung geschrieben hat, was damit einhergeht, dass er medizinische Begriffe nicht erklärt. Um ein Optimum

an Wissen herauszuholen, ist der Leser bei Bedarf daher z.B. via Google selbst gefordert.


Auf der persönlichen Ebene fand ich den Umgang Wolfgang Herrdorfs mit der Krankheit beeindruckend, besonders


• das unbedingte Bestreben, den physisch und psychisch ungemein

belastenden Alltag durch „Arbeit und Struktur“ zu bewältigen. Das heißt so normal wie möglich weiterzuleben, obwohl dies durch Zunahme und Verschlimmerung der Symptome und notwendige Therapien (siehe oben) im Laufe der Zeit immer beschwerlicher und später nur noch mit Hilfe von Freunden möglich wurde,


• der zum Teil humorvolle und sarkastische Umgang mit der Krankheit,

Krankenhäusern und Ärzten,


• sein Durchhaltevermögen, d.h. Bewunderung dafür, was ein Mensch zu

ertragen imstande ist.


Dass es in dem Buch etliche Passagen gibt – z.B. solche, in denen es manchmal sehr ausführlich um andere, mir zum Teil fremde, Autoren

und deren Werke geht – die mir nichts sagten, sodass ich sie später überblätterte, das halte ich in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht

zur Ingroup gehöre, für normal.


Wünschenswert wäre es bezüglich einer Adressatenbezogenheit jedoch gewesen, wenn zumindest die Lektoren sich die Mühe gemacht hätten,

die wichtigsten medizinischen Begriffe zu erklären.


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*) Ein Glioblastom ist ein Hirntumor mit sehr schlechter Prognose.

Er entsteht aus den Zellen des Gehirn-Stützgewebes. Zitat Wolfgang Herrndorf: „Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und das Glioblastom der Rolls-Royce.“


**) Wolfgang Herrndorf schoss sich am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals

in den Kopf – durch den Mund ins Stammhirn.

 

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