Seit fast 20 Jahren sind Georg und die Protagonistin ver-heiratet. Sie hat sich im gemeinsamen Leben eingerichtet,
sich „als sei das eine Bestimmung“ (E-Reader, Pos. 2012) in ihre Rolle und eine Routine gefügt, die nur von gelegentlichen kleinen Abwechslungen unterbrochen wird.
Selbst der gemeinsame Urlaub ist ein Ausdruck für das Immer-Gleiche: Seit 12 Jahren geht es im Sommer für 3 bis 4 Wochen in ihr Appartement am spanischen Mittelmeer – 14 Tage lang ist dann jedes Mal auch ihre Mutter dort zu Gast.
Die Frau steht permanent zwischen Ehemann und Mutter. Beide engen
sie ein mit ihren Erwartungen und Besitzansprüchen einerseits und ihrem eigenen Bemühen, diesen stets gerecht zu werden und zu vermitteln, andererseits. Sie droht, sich selbst zu verlieren und realisiert irgendwann:
„Ich bin drei Personen mit drei Gedankengängen und drei Gefühlswelten gleichzeitig, dabei will ich nur ich sein.“ (Pos. 2090).
Zurück in Deutschland, beherrscht auch dort sofort wieder Gleichförmigkeit den Alltag, und Georg ist ein wesentlicher Teil davon. Nach außen hin geben sie das Bild eines harmonischen, sich liebenden Paares ab, aber es ist, als würde die Erzählerin sein Leben leben, kein eigenes Ich besitzen. Während eines Restaurantbesuchs denkt sie hierüber:
„Dabei steht unsere Liebe längst nicht mehr auf stabilen Beinen wie dieser wackelige Tisch, wie die kippelnden Stühle. Aber wir sitzen noch drauf, hal-ten irgendwie die Balance, schieben immer wieder Papierstückchen unter die Beine.“ (Pos. 2986)
Manchmal kommt ihr der Gedanke, wie es wohl wäre, allein zu sein.
Nach und nach entfernt sie sich innerlich immer mehr von ihrem Mann, was er gar nicht zu merken scheint. Bis zum Schluss jedoch gelingt es ihr nicht, diese Verbindung aufzulösen oder sich von ihrer Mutter abzunabeln.
Allein das Meer, das sie auch in den Augen ihres spanischen Nachbarn Karl sieht, ist für sie das Symbol für Wahrheit und vor allem Freiheit – von ihm möchte sie sich tragen lassen und davonschwimmen.
Resümee: Ein sehr tiefgründiger Beziehungsroman, bei dem sich nach und nach die Spannung steigert und gegen Schluss ihren Höhepunkt erreicht:
Erlebt der Leser anfangs den gleichförmigen, wenig abwechslungsreichen Alltag des Ehepaares mit, so strebt mit fortschreitender Handlung, je mehr die Frau aus ihrem Leben erzählt und ihre Gedanken preisgibt, alles auf eine dramatische Veränderung zu.
In dem Maße, wie sie die Einengung durch Mutter und Ehemann beschreibt, je mehr sie darunter leidet, nimmt auch die Beklemmung beim Leser zu.
Die Ereignisse werden aus zwei Perspektiven erzählt:
In der Ich-Form schildert die Frau ihr Leben als Ehefrau und Tochter –
diese beiden Rollen sind es, die sie ausmachen. Und obwohl sie die Hauptperson ist, hat sie im Buch als einzige keinen Namen: Er steht
für die Identität eines Menschen, und die hat sie bis zum Schluss nicht gefunden. Außerdem entsteht durch die Namenlosigkeit eine gewisse Allgemeingültigkeit, die insbesondere vielen Frauen ein hohes Identifi-kationspotenziel bietet.
Einige wenige Passagen sind in der Sie-Form geschrieben: Dann ist sie
auf der Suche nach ihrem Ich, nach sich selbst – meist mit einem Bezug zum Meer. Hier will sie sich befreien, loslassen.
Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich ist das Buch exzellent: präzise und anschaulich-bildhaft, wie bereits die oben eingefügten Zitate zeigen mögen.
Fazit: Ein „heimtückisches“ Buch, weil es den Leser mit der anfänglichen
Beschreibung des Lebens eines nach vielen Ehejahren noch immer harmonisch zusammenlebenden Paares zunächst in Sicherheit wiegt. Auch, weil – oder vielleicht sogar obwohl - man etliche Parallelen zu seinem eigenen Leben ziehen kann.
In dem Maße, wie man allerdings aus Sicht der Frau immer mehr hinter die scheinbar heile Fassade schauen kann, nimmt die Beklemmung zu. Man erschrickt und ist bestürzt!
Gehört zu meinen persönlichen Top 10!
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Karen Grol-Langner (Samstag, 21 März 2015 09:51)
Liebe Annette, danke für die ausführliche, tiefschürfende und persönliche Rezension. Ich freue mich besonders über die Wirkung des Romanes auf dich, denn sie spiegelt meinen Eindruck. Grüße Karen
Daniela Gerlach (Samstag, 21 März 2015 14:45)
Vielen Dank für diese ausführliche Rezi! Schön zu lesen, dass jemand die Geschichte so aufgefasst hat wie ich es im Sinn hatte.
Beatrix Petrikowski (Samstag, 02 Mai 2015 14:33)
Eine knisternde Spannung und bedrückende Atmosphäre haben dafür gesorgt, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen konnte.