Thriller
Zwölf Jahre sind die Künstlerin Alexandra und der Literaturdozent Dr. Marc Southwood miteinander verheiratet; ihre beiden Töchter sind sieben und zehn Jahre alt. Das Glück scheint perfekt zu sein - da verschwindet Alexandra am 21. Februar 2013 plötzlich spurlos.
Eine groß angelegte Suche nach der Vermissten beginnt, bleibt jedoch ohne Erfolg. Als man nach einer Woche ihre blutige Kleidung an einem Flußufer findet, geht die Polizei von Mord aus und macht Marc wenig Hoffnung, seine Frau noch lebend zu finden.
Doch er gibt nicht auf und hofft weiter, dass sie lebt, sich bei ihm meldet oder gefunden wird.
Im Gegensatz zu ihm weiß der Leser von Anfang an, dass Alexandra nicht tot ist, sondern irgendwo festgehalten wird, wo sie auf Videos ansieht, was zu Hause geschieht und wie verzweifelt ihre Familie und Freunde sind.
Doch man bleibt bis zuletzt im Ungewissen darüber, was passiert ist und wo sie sich aufhält.
Im April 2014 hat Marc vor allem durch auf dem Dachboden gefundene Briefe von Alexandras bester Freundin Amelia so viele Informationen gesammelt, dass er sich eigenmächtig auf die Suche nach seiner Frau begibt.
Das Resultat ist erschütternd, denn er muss feststellen, dass er die Vermisste nicht richtig gekannt hat.
Resümee: Die Handlung setzt sich aus 3 miteinander verwobenen Zeit- respektive Informationsebenen zusammen:
• Eine umfasst den Zeitraum vom 21. Februar 2013 (Kapitelüberschrift: "Der Anfang") - das ist der Tag, als Alexandra verschwindet - bis zum 4. April 2014 (Kapitelüberschrift: "Das Ende").
Es folgt noch ein Nachklapp, datiert auf Mai und August 2015.
Hier erfährt der Leser den jeweils aktuellen Stand der Suche nach der Vermissten sowie die Situation ihrer Familie.
Und Alexandra kommentiert aus ihrer Sicht entsprechende Videos, wobei die Interpretation von Verhalten und emotionaler Lage der betreffenden Personen auf ihrer subjektiven Einschätzung basiert.
• Am 28. August 1998 haben Alexandra und Marc sich in York kennengelernt. Nach ihrem Besuch dort im Dezember des gleichen Jahres kehrt sie nicht nach Chicago zurück, um ihr Kunst-Studium fortzusetzen, sondern bleibt bei Marc. In Rückblenden wird aus Sicht der jungen Frau bis zum Tag ihres Verschwindens erzählt, wie sich ihre Beziehung und familiären Umstände im Laufe der 15 Jahre entwickelt haben.
Diese Kapitel sind notwendig, um Alexandras Situation und Gefühlslage verstehen zu können.
• Vom 6. April 1999 bis zum 14.12.2012 hat Amelia Briefe an Alexandra geschrieben. Sie ist ebenfalls Künstlerin, beide haben in Chicago zusammen studiert und große Zukunftspläne geschmiedet. Amelia wirft ihrer Freundin vor, dass sie sie wegen Marc verlassen und ihre gemeinsamen künstlerischen Projekte gegen ein langweiliges Dasein als Ehefrau und Mutter eingetauscht habe. Sie selbst steigt im Laufe der Zeit zu einer renommierten New Yorker Künstlerin auf.
Die Kombination dieser 3 Ebenen macht das Buch spannend - weniger, was die Dramatik der Handlung anbelangt als vielmehr in Bezug auf die Entwicklung von Marcs und Alexandras Leben. Durch ihre subjektiven Kommentare zu den Videos nach ihrem Verschwinden, Rückblenden zu den Anfängen und Einblicke in die Dynamik der Beziehung sowie die Briefe Amelias ergibt sich aus vielen Einzelinformationen schließlich ein komplexes Bild. In dessen Mittelpunkt stehen die Themen Liebe, Ehe, Mutterschaft, verbunden mit der Frage, ob häusliche Harmonie, eine glückliche Beziehung, gut geratene Kinder, zuverlässige Freunde und finanzielles Abgesichertsein für ein zufriedenes Leben ausreichend sind.
Ist der Preis dafür möglicherweise, dass ganz individuelle Pläne und Bedürfnisse auf der Strecke bleiben? Ist es das wert oder muss man auf Dauer auch in einer scheinbar gleichberechtigten Beziehung (zu) viele Kompromisse schließen, um ein im wahrsten Sinne des Wortes erfülltes Leben führen zu können?
Sind beide Aspekte - häusliches Glück und die Realisierung persönlicher Ziele - überhaupt miteinander in Einklang zu bringen?
Und wenn man sich entscheiden müsste: Welcher Komplex ist wichtiger? Welchen Preis ist man jeweils bereit zu zahlen?
Alles mündet schließlich in der Frage, ob man Alexandras Verhalten verstehen kann oder für unverantwortlich hält.
Auch die Kunst spielt in diesem Buch eine zentrale Rolle, vor allem die bildende und die Performance-Kunst. Damit verbunden ist die Diskussion, wie weit Kunst gehen darf, ob sie immer moralisch zu sein hat. Ist nicht sogar das ganze Leben Kunst (Assoziation "Lebenskünstler")?
Ein Thriller ist dieses Werk sicher nicht! Auch kein Psychothriller im eigentlichen Sinne, obwohl es etliche Fragen, Wendungen, falsche Spekulationen gibt. Denn die Frage, ob Alexandras Verschwinden überhaupt ein Verbrechen war, muss jeder Leser meines Erachtens für sich selbst beantworten - obwohl sie darüber hinaus mit Sicherheit etliche Gesetzesverstöße begangen hat.
Den Anfang kann man als Krimi-Handlung bewerten, die dann allerdings in einen (Entwicklungs-) Roman mündet.
Fazit: Dieses Buch behandelt eine ähnliche Thematik wie
"Jesolo" von Tanja Raich (Rezension vom 26.03.2019),
jedoch sehr viel umfassender.
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