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Elmar Traks

Elmar Traks

Lütz, Manfred – Neue Irre (2020)

Wir behandeln die Falschen

Eine heitere Seelenkunde

 

In seinem Vorwort schreibt der Autor (E-Reader, 5%): „Überall laufen immer mehr Irre herum, Massenmörder, Kriegshetzer, Lügner, Betrüger, rücksichtslose Egomanen, aber das Dilemma bleibt: All diese Typen kann man leider nicht behandeln, denn sie sind normal, jedenfalls nicht krank, und gerade deswegen brandgefährlich.“ Im anschließenden Vorspiel wiederholt er, dass das Problem unserer Gesellschaft nicht die Verrückten, sondern die Normalen seien, ergo die Falschen therapiert würden. Man müsse sich also vor diesen und nicht vor den psychisch Kranken in Acht nehmen.

Um das beurteilen zu können, benötigt man allerdings Kenntnisse über psychische Krankheiten und die gängigen Therapien. Der Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz hat den Anspruch, die komplexe Thematik der Psychiatrie und Psychotherapie humorvoll-unterhaltsam und dabei allgemein verständlich auf 200 Seiten zu erklären.

 

Er unterscheidet bei seinen Darstellungen zunächst zwischen Wahnsinn und Blödsinn, hinterfragt dann, warum Behandlungen nötig sind und wer wie behandelt werden sollte. Des Weiteren geht er auf Diagnosen und Therapien ein und schreibt danach u.a. über Süchte, Schizophrenie, Depressionen, Traumata, Ängste und Zwänge.

 

Resümee: Irre = normal und nicht behandlungsbedürftig, Normale = irre und behandlungsbedürftig? Eine auf den ersten Blick nicht nur erheiternde, sondern bei näherem Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse auch eine durchaus interessante These.

Was der Autor dazu jedoch ausführt – er brüstet sich, den Leser auf 200 Seiten über alle Psycho-Diagnosen und -Therapien aufklären zu können – ist oberflächlich, zum Teil falsch und strotzt vor unausgegorenen Ansichten.

 

Dabei rühmt er sich in Vorwort, Vorspiel und Einführung damit, die gesamte Thematik witzig und humorvoll darzubieten. Mehr noch: Sein Freund Eckart von Hirschhausen soll ihn sogar ermuntert haben, damit vor Publikum aufzutreten – wobei Manfred Lütz sich allerdings nicht zu schade ist, Comedy und deren Vertreter generell zu verunglimpfen (E-Reader, 16%) … also letztlich auch seinen Freund Hirschhausen, der bei Wikipedia u.a. als „Comedian“ geführt wird.

Beim Lesen der 3 eben genannten Eingangskapitel musste ich auch wirklich oft zumindest schmunzeln, manchmal auch lachen. Ab dann allerdings war das Humor-Witz-Pulver offenbar verschossen, denn im Folgenden wurde es ernst und zunehmend staubtrocken.

 

Bei 34% des Inhalts habe ich kapituliert, ich konnte so viel geballte Ladung

an Unwissenschaftlichkeit, Klischees, Populismus, wirren und vagen Darstellungen einfach nicht mehr ertragen.

 

Nur ein paar Beispiele:

Donald Trump sei ein pathologischer Narzisst? Mitnichten. Denn das ist „jemand, der über so wenig gesundes Selbstbewusstsein verfügt, dass er den permanenten Beifall seiner Umgebung braucht – ein Beifall, der ihm aber nie wirklich reicht. Irgendwann machen das die Freunde nicht mehr mit, der Patient vereinsamt oder der Erfolg bleibt aus. Dann fällt dieser bemitleidenswerte Mensch in ein Loch, leidet schwer – und muss zum Psychotherapeuten.“ (E-Reader 9%)

Ergo kann Donald Trump lt. Autor kein pathologischer Narzisst respektive psychisch krank sein: Er leide nicht, habe Erfolg, zahlreiche Freunde und Anhänger. Es sei vielmehr als Produkt seiner Erziehung ein extrem unmoralischer Mensch, dessen Verhalten seine bewusste, antrainierte Erfolgsstrategie sei. Und das sei nicht therapierbar.

Das kann man wohl getrost anders sehen, wie es z.B. Mary L. Trump, die in klinischer Psychologie promovierte Nichte des Ex-Präsidenten, in ihrem Buch „Zu viel und nie genug“ (Rezension vom 16. Okt. 2020) fundiert ausführt.

Vielleicht sollte sich der Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz um der Seriosität (auch des gesamten Berufsstandes) willen nicht mit einer so stark verkürzten, oberflächlichen Definition von Narzissmus zufrieden geben.

 

Hitler, ein psychisch Kranker? I wo! „Wäre Hitler psychisch krank gewesen, hätte er seine Verbrechen nicht begehen können. Hitler war normal, schrecklich normal.“ ((E-Reader 11%).

Es wird ja unter Fachleuten durchaus kontrovers diskutiert, ob der Diktator medizinisch gesehen geisteskrank war – aber auf die Lütz'sche Minimal-Aussage kann man die Diagnose dann doch nicht herunterbrechen.

 

• Mindestens fragwürdig ist z.B. das Statement zu Dieter Bohlen – man kann ihn mögen oder nicht: „So hat er aus dem, was man eine schwere Beziehungsbehinderung nennen könnte, einen durchschlagenden Werbegag gemacht (…) Er hält Frauenbeziehungen gewöhnlich nur wenige Jahre durch.“ (E-Reader 15%) - wofür der Autor auch ganz genau den Grund kennt: Seine Partnerinnen bewundern ihn irgendwann nicht mehr genug oder sind nicht mehr so ansehnlich.

Abgesehen davon, dass in den Medien jeweils andere Trennungsgründe kolportiert wurden, ist die vage Angabe „wenige Jahre“ interpretationsfähig: Die Ehe mit Verona Feldbuch dauerte zwar gerade mal einen Monat, mit seiner ersten Frau Erika allerdings war Bohlen 6 Jahre verheiratet, mit Nadja Abd el Faraq im ersten Anlauf 7 und dann noch einmal 3 Jahre zusammen. Die Liaison mit Estefania Küster währte 5 Jahre, seine aktuelle Beziehung mit Carina hält bereits 15 Jahre.

Hier von einer „schwere(n) Beziehungsbehinderung“ zu sprechen, halte ich für außerordentlich gewagt – auf wie viele Menschen würde diese Diagnose dann nicht zutreffen?

 

• Statt unter der Überschrift „Genie und Wahnsinn“ über bereits verstorbene Künstler wie Salvador Dalí, Joseph Beuys und Andy Warhol zu schreiben, hätte mich die Meinung des Autors zu Personen der Gegenwart interessiert, wie z.B. zu Elon Musk.

 

• „Sucht ist Unfreiheit. Aber nicht totale Unfreiheit. Sucht betrachten wir heute als Erkrankung der Wahlfreiheit. Der Süchtige hat keine Wahl. Er muss trinken.“ (E-Reader 30 %) Das lasse ich bezüglich Sprache und Inhalt wegen des allzu Offensichtlichen mal unkommentiert.

Ziel sei es in so einem Fall, fährt der Autor fort, beim Süchtigen die Wahl-freiheit wieder herzustellen, sodass man dann sagen könne, „dass jemand 'sich entschieden hat, zu trinken', (...)“ (E-Reader 31%) - und zack, ist die Sucht schon keine Erkrankung mehr; denn wer die Wahl hat, etwas zu tun oder zu lassen, sei nicht krank.

 

Fazit: Folgt man den kruden Ausführungen des Autors, müssten

Psychiatrien und psychiatrische Einrichtungen eigentlich leergefegt,

der Beruf des Therapeuten vom Aussterben bedroht sein.

 

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